April 1945 - Die Todesmärsche nach Mittenwald

 

 

 

 

 

"Neun hatten wir befreit"

"Er zog mich mit der Hand nahe zu sich heran... "Sie treiben KZler durch den Ort - in einem furchtba­ren Zustand... Hunderte von KZlern, in den dünnen Drillichanzügen, fast ohne Schuhwerk, verhun­gert, geschwächt... Waffen-SS. Ganz brutale Hunde. Wenn einer nicht mehr kann, schlagen sie ihm mit dem Gewehrkolben ins Kreuz oder treten ihn zusammen... Wir müssen versuchen, einige KZler zu befreien. Von ihnen können wir erfahren, was man mit den Todge­weihten vorhat."...

Die Nachricht, daß die KZler durch den Ort getrieben würden, hatte sich mit Windeseile verbreitet... Schon war ein Brausen in der Luft, ein Geräusch, noch nie gehört. Ein Gemisch aus Stimmen, aus laut gebrüllten Befehlen, Geklirr von Gasmaskenbüchsen und Seitengewehren, die gegen Koppel und Körper schlugen, von einzel­nen schrillen Schmerzensrufen und Stöhnen. Da bog schon die Spitze des Zuges um die Ecke, in die Hauptstraße hinein. Und zu dem Ge­stöhn, das dem Zug vorausgeeilt war, kam nun, mit einem Schlag, ein Aufstöhnen derer, die das sahen - ein Ausdruck der Betroffen­heit, des Entsetzens und der Ohnmacht, das sehen zu müssen und nicht helfen zu können.

Sie zogen in Fünferreihen dahin, an der Spitze ein SS-Offizier, dann folgten zwei Scharführer. Und dann die Unglücklichen in ihrer dünnen, blau-weiß gestreiften Häftlingskleidung. Die Temperatur be­trug zwei Grad über Null, es wehte ein bissiger Nordwind. Mit Papier, Zeitungen, Fetzen von Lumpen hatten die Männer aus dem KZ ihre Beine, den Oberkörper umwickelt.., Die entkräfteten Körper schlotterten vor Kälte hin und her... Lag einer, sprang einer der Wachen hinzu, riß ihn hoch und stieß ihn, mit dem Kolben des Ge­wehrs nachhelfend, in die Reihe zurück...

Zum ersten Male wurden die Einwohner* mit der Wirklichkeit konfron­tiert, dem unverhüllten Terror des Nationalsozialismus... Es war, als hätte eines der von Dämonen, Teufeln, Gefolterten und Gegei­ßelten wimmelnden Bildes von Hieronymus Bosch, Gestalt angenom­men...

Neun hatten wir befreit. Fünf Polen, zwei Holländer, einen Tschechoslowaken. Bis auf den einen Holländer, einen jungen Kerl von zwanzig Jahren, den man als Mitglied einer Widerstandsgruppe geschnappt hatte, waren alle Juden. Auch der neunte, Dr. van Leeuwen." (Dr. Hano van Leeuwen, Tierarzt, aus Holland; KZ-Lager Natzweiler, D.H..)...

"Wieviele Häftlinge sind es zusammen? ... unterwegs sind ja viele umgekommen. Jetzt vielleicht noch achthundert. Wissen Sie, was man mit ihnen vorhat? ... Von den Isarinseln. Bei Scharnitz. Dort sol­len sie ausgesetzt werden - verhungern und erfrieren...

Was ist aus den KZ-Insassen geworden? Sie sind alle gerettet. Wir haben die Gebirgsjäger alarmiert, und da sind sie getürmt, die SS-Wachen...Sie sind gut untergebracht, zu großen Teil in der Turn­halle, und sie haben alles."

* von Mittenwald

Aus: Christian Hallig, Festung Alpen - Hitlers letzter Wahn. Wie es wirklich war - ein Erlebnis-bericht (Herder Taschenbuch, Freiburg 1989) S. 22 ff

 

 

© Alois Schwarzmüller 2006