April 1945 - Die Todesmärsche nach Mittenwald

 

 

 

 

 

April 1945 – Die Todesmärsche nach Mittenwald

„Eines Abends erfuhren wir, dass wir um drei Uhr früh das La­ger verlassen und in Rich­tung Westen marschieren werden, mit unbekanntem Ziel, um nicht von der vorrückenden Front eingeholt zu werden. Jeder bekam einen halben Laib Brot und etwas Margarine, genug für einen Tag, vielleicht. Damit soll­ten wir täglich fünfzehn, zwanzig Kilometer marschieren, mitten im Winter, bei minus zehn, zwanzig Grad, bekleidet nur mit unserer dünnen, gestreiften Häftlingskluft, einer leichten Jacke und Schuhen aus Baumrinde. Kein Wunder, dass diese Trecks unter dem Namen »Todesmärsche« bekannt wurden. Selbst mit etwas Fett auf den Knochen und angemessener Kleidung wäre es bei diesen Tempe­raturen eine grauenhafte Strapaze gewesen.“ So beschreibt Michael Checinski in „Die Uhr meines Vaters“ den Beginn seiner „Evakuierung“. Mit ihr begann für ihn und viele seiner Leidensgefährten eine erschütternde Reise in eine neue Hölle jenseits des Konzentrationslagers.

Gefangene, die noch arbeitsfähig waren, wurden zu Tausenden und Abertausenden in die „sicheren“ Konzentrationslager im Inneren des Deutschen Reiches zu Fuß getrieben oder in Massentransporten mit der Bahn „evakuiert“. Zum Teil waren diese unglücklichen Opfer auch als „Verhandlungsmasse“ für Friedensgespräche hoher NS-Funktionäre mit den Alliierten gedacht. Als menschliche Faustpfänder wurden sie dann Richtung „Alpen­festung“ gebracht. Ungezählt sind die Frauen, Männer und Kinder, die dabei ums Leben kamen - dahinsiechend in gnadenlos überfüllten Eisenbahnwagons, erschossen von SS-Wächtern auf den Fußmärschen, wenn sie erschöpft liegen blieben. Allein zwischen Weilheim und Seefeld werden 174 Gräber gezählt.

Im Konzentrationslager Dachau trafen solche Häftlingsgruppen aus Auschwitz, aus dem elsässischen Natzweiler und aus anderen Lagern in den letzten Kriegsmonaten ein. Von Dachau aus wurden sie dann im April 1945 in die Tiroler „Bergfestung“ in Marsch gesetzt, zu Fuß oder mit der Bahn.

 

Der Eisenbahntransport Mittenwald – Scharnitz - Seefeld

Am Montag 23. April wurde im KZ Dachau die Bildung eines Häftlingszuges befohlen. Dieses „Kommando Ötztal“, bestehend aus 1700 bis 1800 jüdischen Gefangenen, sollte vermutlich die Er­richtung eines Großwindkanals im Ötztal vorantreiben, damit die letzte „Wunderwaffe“, das strahlgetriebene Flugzeug, im Herbst 1945 den Krieg entscheiden könnte.

Am Mittwoch 25. April kam dieser Zug in Garmisch-Partenkirchen an. Die Fahrt war langsam vo­rangegangen, wegen der Fliegerangriffe konnte nur nachts gefahren werden.

 

 
 

Oben: Zwei Listen mit den Namen von Häftlingen, die am 25. April 1945 mit einem Bahntransport auf dem Weg vom KZ Dachau ins Ötztal in Garmisch- Parten-kirchen drei Tage Halt machten

Links: Das Bild zeigt Raffael Rosenblatt (Mitte, mit Banjo). Die Häftlingsliste führte ihn mit der Nummer 115 (rechtes Blatt). Seine Eltern stammten aus der polnischen Stadt Tarnow in Galizien. 1912 kam er in Groningen (Niederlande) zur Welt, studierte in Italien Gesang, wurde im November 1943 festgenommen, in Civitella del Tronto in einem Lager für Juden interniert und im Mai 1944 nach Auschwitz deportiert. Mit einem Todesmarsch erreichte er das Konzentrationslager Dachau. Von dort sollte er als Häftling Nr. 115 über Garmisch-Partenkirchen ins Ötztal gebracht werden. Der Zug erreichte sein Ziel nicht mehr - bei Scharnitz wurde Rosenblatt am 1. Mai 1945 von Soldaten der US-Streitkräfte befreit.

Fotos: Internationaler Suchdienst (ITS) in Bad Arolsen und Elizabeth Bettina, It happend in Italy (2009)

Barbara Kintaert (Wien) danke ich für den Hinweis auf das Schicksal von Raffael Rosenblatt. asm

 

Am Samstag 28. April fuhr der Zug mit den jüdischen Gefangenen und ihren SS-Wächtern in Seefeld ein. Nach Innsbruck weiterzufahren war nicht möglich, weil die Gleisanlagen bei Reith durch Luftangriffe zerstört waren. Außerdem verweigerte der Tiroler Gauleiter Franz Hofer die Übernahme des Zuges und seiner menschlichen Fracht. In jedem einzelnen Wagon vege­tierten an die hundert Häftlinge. Bewacht wurden sie von insgesamt hundert schwer bewaffneten SS-Männern. Zwei Angehörige der Münchner Polizei leiteten den Transport. 65 marschunfähige Häftlinge blieben in Seefeld. Alle anderen wurden zu Fuß von Seefeld nach Mösern getrieben und kamen dort am Abend des 28. April an – sofern sie auf diesem Teil des Todesmarsches nicht am Rande des Weges an Erschöpfung ge­storben waren. Bauern aus den umliegenden Gehöften begruben die Toten am folgenden Tag.

Am Sonntag 29. April mussten die Häftlinge von Mösern wieder zurück nach Seefeld. Erneut blie­ben viele tot am Straßenrand liegen. Von Seefeld ging es mit der Bahn Richtung Mitten­wald, teilweise wurden die Erschöpften auch auf Pferdekarren gefahren. Bei Scharnitz mussten alle Häftlinge den Zug verlassen und nördlich der Porta Claudia am Rande der Isar „biwakieren“. In der Nacht zuvor hatte es stark geschneit. Die Lage der Häftlinge an der Isar war verzweifelt. Die Rettung so nahe – US-Truppen hatten am Abend des 29. April Garmisch-Partenkirchen besetzt. Das wusste auch die SS. Sie schien die Erschießung der Häftlinge vorzubereiten. Eine deutsche Frau – eine Bäuerin aus Krün? die Ehefrau des SS-Kommandanten? – sprach mit dem Transportführer, „nahm ihn am Arm und führte ihn weg“. Das hatte zur Folge, dass sich auch die anderen Bewacher in der Nacht ab­setzten. Ein Teil der Häftlinge nutzte die Gelegenheit, um noch in der Nacht nach Seefeld zurückmarschieren, einige starben aufgrund der extremen Kälte, andere, weil sie von deutschen Soldaten beschossen wurden, wieder andere kamen tatsächlich bis nach Scharnitz oder Seefeld. Die meisten verharrten am Ufer der Isar oder auf einer ihrer In­seln, hielten sich versteckt und warteten auf die erlösende Befreiung.

Am Montag 30. April wurden alle Häftlinge, die nach dieser aufregenden Nacht in Seefeld einge­troffen waren, wieder per Bahn vom Süden her nach Mittenwald in Marsch gesetzt. Die Soldaten der 10. US-Panzerdivision und der 103. US-Infanteriedivision, die Garmisch-Partenkirchen eingenommen hatten, setzten am gleichen Tag ihren Vormarsch vom Nor­den her in Richtung Mittenwald fort.

Am Dienstag 1. Mai warteten die zwischen Scharnitz und Mittenwald frei gekommenen Häftlinge auf die amerikanischen Truppen. An der Porta Claudia kam es noch zu einem kurzen Ge­fecht zwischen versprengten Soldaten der Wehrmacht und US-Truppen – dann hatte der Alptraum der KZ-Häftlinge ein Ende.

 

Die Fußmärsche von Garmisch-Partenkirchen und Kochel nach Mittenwald

Am Sonntag 29. April erreichte ein zweiter Bahntransport aus Dachau die Gegend von Mitten­wald. Vermutlich waren das die 1500 Häftlinge, die drei Tage zuvor das Konzentrations­lager verlassen hatten. Am gleichen Tag wurden „halbverhungerte KZ-Häftlinge“ in den Straßen Mittenwalds gesehen. Carl Rall, Hauptmann der Gebirgsjäger, berichtete, dass KZ-Häftlinge in größeren und kleineren Gruppen von Kochel aus über Krün und Wallgau Richtung Süden zu Fuß nach Mittenwald unterwegs waren. Bei der Eröffnung des "Jüdischen Hauses" in Mittenwald Mitte November 1945 erzählte der polnische Diplomingenieur Przygoda von seiner Befreiung in der Nähe einer kleinen Kapelle bei Krün. Ein Einwohner des Weilers Gerold sprach von 200 KZ-Häftlingen, die von ihren SS-Peinigern nach Mittenwald getrieben wurden. Und der Garmisch-Partenkirchner Augenzeuge Hermann Fink erinnerte sich an „KZ-Insassen“, die aus Richtung Grainau kom­mend an der Garmischer Zugspitzgarage vorbeizogen, „bewacht von SS-Schergen und einer Meute von Wolfshunden“.

Am Montag 30. April wurden ca. 800 Gefangene, aus Richtung Garmisch kommend, in Fünferreihen durch den Markt Mittenwald getrieben, begleitet von 30 bis 40 SS-Bewa­chern. Christian Hallig hat geschildert, wie es der Widerstandsgruppe „Turicum“ gelungen ist, aus diesem Zug neun Häftlinge zu befreien. Am späten Nachmittag dieses Tages wurde Mittenwald von den US-Truppen beschossen, weil sie bei Klais auf bewaffneten Widerstand gestoßen waren.

Am Dienstag 1. Mai wurde Mittenwald kampflos von amerikanischen Einheiten besetzt. Die US-Soldaten trafen auf die ersten befreiten KZ-Häftlinge: „They were cold, hungry and thoroly weak­ened; their bodies were filthy and covered with scabs and traces of brutal beatings. They bagged the Yanks for food and snatched pitifully at K-ration biscuits und cans of Corned Pork Loaf. One tall, wastet Jew stood by a bend in the road and waved to the soldiers and they rode by. He called out: ‘Why came you so late? Why came you not 2 years soo­ner?’”

 

In den nächsten Tagen und Wochen wurden die überlebenden KZ-Häftlinge im Mittenwal­der Gemeindekrankenhaus, in den Kasernen des Ortes, im Standortlazarett Garmisch-Partenkir­chen und in verschiedenen Gästehäusern und Pensionen des Olympiaortes aufgenommen und gepflegt. Viele von ihnen sind dennoch in den ersten Tagen der Freiheit gestorben, geschwächt von den oft jahrelangen seelischen und körperlichen Torturen der Lagerhaft und von den sich anschließenden Strapazen des Todesmarsches nach Garmisch-Parten­kirchen, nach Kochel, nach Mittenwald, nach Seefeld, nach Mösern.

 

Weiter zu den Quellen:

 

Literatur:

Thomas Albrich / Stefan Dietrich, Der Todesmarsch in die Alpenfestung - In: Geschichte und Region.Jahrbuch der Arbeitsgruppe Regional­geschichte, Bozen  6. Jahrgang 1997

Michael Moshe Checinski, Die Uhr meines Vaters (Frankfurt am Main im Jahre 2001)

Christian Hallig, Festung Alpen - Hitlers letzter Wahn. Wie es wirklich war - Ein Erlebnisbericht (Freiburg im Breisgau 1989)

Otto-Ernst Holthaus (Hrgb.), Der Todesmarsch (Wolfratshausen 1993)

Hubertus von Pilgrim, Das Mahnmal (München 2001)

Andreas Wagner, Todesmarsch. Die Räumung und Teilräumung der Konzentrationsla­ger Dachau, Kaufering und Mühldorf Ende April 1945 (Ingolstadt 1995) - http://www.a-wagner-online.de/todesmarsch/marsch02.htm (26.05.2006)

Die Todesmärsche - http://www.br-online.de/bayern-heute/thema/kriegsende/todesmaersche-erinnern.xml (26.05.2006)

KZ-Todesmarsch - http://tirol.orf.at/magazin/tirol/themen/stories/32609/ (25.05.2006)
 

 

© Alois Schwarzmüller 2006