Ein Kriegsende - Garmisch-Partenkirchen in den letzten Apriltagen 1945

 

 

 

 

 

Bericht des Hauptmanns der Gebirgsartillerie Hans Müller-Brandeck

 

Am 4. April 1945 traf ich aus Schwäbisch-Gmünd nach 4-wöchigem Lazarettaufenthalt in Garmisch-Partenkirchen ein, wo meine Ersatzabteilung lag. Ich hatte in Schwäbisch-Gmünd das Teillazarett St. Josef Hals-über-Kopf verlassen, weil mich der zuständige Kreisleiter der NSDAP zum Kommandanten für die Verteidigung des Lazaretts gegen anrückende amerikanische Truppen ernannt hatte. Tags darauf meldete ich mich beim Kommandeur der Gebirgsartillerie-Ersatz- und Ausbildungsabteilung 79, Major Hoffmann, und seinem Adjutanten, Oberleutnant Pflanz.

Bei der am 6.4. im Hospital 4 „Alpenhof" stattfindenden Untersuchung stellte der Chefarzt Dr. Salm fest, daß ich wegen einer Schädigung des Peronäus-Nerves infolge Durchschusses der rechten Kniekehle weiterhin täglich krankengymnastisch behandelt werden müßte. Diese Behandlung sollte im Teillazarett "Drei Mohren" ambulant durchgeführt werden, so daß ich in der Kaserne - in einem mir vom Kdr zugewiesenen Zimmer - wohnen blieb. In der Kaserne lernte ich zahlreiche Offiziere kennen, so die Hauptleute Dr. Brüssmann, Dr. Salm, Nittinger, Attin, Trump und die Oberleutnante Dittmeier, Ritter und viele andere. Schon in den nächsten Tagen stellte ich fest, daß die wenigsten dieser Herren Aufgaben hatten. Auch merkte ich bald, daß Garmisch voll Prominenz war. Musiker (Prof. Elly Ney, Prof. Ludwig Hölscher), Schriftsteller, Schauspieler, gerüchteweise sogar 8 Reichsminister hielten sich hier auf. Später sagte man mir, der sonst ca. 25.000 Einwohner zählende Ort beherberge derzeit 85.000Menschen. Jeder glaubte nämlich, Garmisch-Partenkirchen werde von Bomben verschont bleiben. Ich wurde täglich mit einer Kutsche zur ambulanten Behandlung ins Teillazarett „Drei Mohren" gefahren. Am 20.04. hielt ich im Lazarett „Alpenhof" vor mehreren 100 Zuhörern die Geburtstagsrede auf Adolf Hitler. Unter den Zuhörern war vom Generaloberst bis zum Landser alles vorhanden. Ich hatte auf Bitte des Chefarztes ein natürlich geheimes "Gentlemens-Agreement" mit diesem geschlossen. Für meine Ansprache - die eigentlich er als Chefarzt halten sollte - wollte er mich nach der voraussehbaren Besetzung Garmischs durch die Amis stationär in sein Lazarett aufnehmen. Am Abend des gleichen Tages fand für die Offiziere der Abteilung eine Abschiedsfeier statt und am 21.04. übernahm ich die Ausbildungsbatterie 2.

Während starke feindliche Fliegerverbände, wie fast täglich, von Süden kommend, Garmisch überflogen, marschierte der einsatzfähige Teil der Ersatzabteilung 79 aus der Kaserne. Von da an waren die Führungsverhältnisse nicht mehr klar, da Major Hoffmann und sein Adjutant mit der Abteilung in Richtung Donauwörth ausgerückt waren. Dennoch fanden am 25. Chefbesprechungen statt. Ich weiß nicht mehr, wer diese geleitet hat. Im übrigen bot die Kaserne zunehmend ein deprimierendes Bild und dauernd fuhren Befehlswagen mit hohen Offizieren und deren Sekretärinnen aus Norddeutschland hier ein. Angeblich waren es Teile des Oberkommandos des Heeres. Infolge der Ereignisse in München - Putschversuch des Majors Caracciola und des Hauptmanns Gernegroß gegen die Gauleitung - jagten sich am 26.4. Befehle und Gegenbefehle, die das aufgeregte Klima in Bayern widerspiegelten. Der 27.4. sah die unvermutete und ungeklärte Rückkehr des Majors Hoffmann und des Adjutanten Pflanz. Mitten in der Nacht zum 28.4. wurde mir von Major Hoffmann die Führung der Restteile der Abteilung übertragen. Noch in der Nacht wurden 2 Kompanien unter Führung der Oberleutnante Knapp und Tempelmaier gebildet und mit Marschverpflegung versorgt. Geschütze waren keine mehr da. Warum keiner der Dutzende großenteils gesunder Hauptleute, die teilweise schon jahrelang in Garmisch stationiert waren und auch die notwendige Ortskenntnis besaßen, eingesetzt wurden, blieb mir ebenso ein Rätsel wie mein Einsatz als Abteilungsführer, da ich wegen meiner Peronäuslähmung am Stock ging und keineswegs gesundgeschrieben war.

Mittags des 28. wieder Offizierbesprechung unter Major Hoffmann, der psychisch und physisch fertig war. Gegen 14.00 Uhr rückte ich mit meinen 2 Kompanien, etwa 400 Mann stark, aus der Kaserne. Am 29.4. mehrmals Offiziersbesprechung in der Kaserne, wobei Hoffmann wohl wegen des gescheiterten Putsches in München - andere Richtlinien als am Vortag ausgab.

Ich mußte zwei Züge zum Divisionsstabsgebäude - Oberst Hörl - abstellen, weil bei den Jägern Auflösung herrschte. Mein Leutnant Scheliga hatte mit seinem Zug Schwierigkeiten, da er jedem nach Süden fahrenden PKW einige Munition zupacken soll, was den meisten Fahrern natürlich unlieb ist. Ich hatte meinen Gefechtsstand in einem Lokal am Kramerplateauweg aufgemacht und um ca. 16.00 Uhr kam Major Hoffmann dort hin und gab mir den Befehl, mit meinen Leuten über Griesen, Ehrwald und das Gaistal nach Seefeld zu marschieren, was ich angesichts der Lage verweigerte. Darauf fuhr Hoffmann wütend mit seinem PKW weg. Ich ließ nun durch die Abteilungsschreiber die Entlassungspapiere für die Leute vorbereiten, nachdem ich von Oberst Hörl, mit dem ich über das öffentliche Telefonnetz Verbindung hatte, keine Befehle erhalten konnte. In meiner Einheit waren 12 Offiziere, alles Leutnante und Oberleutnante. Ich ließ die Abteilungen antreten und erklärte den Leuten unsere Lage. Dann wurden die Bauernsöhne herausgesucht und gefragt, wieviele Kriegsgefangene jeweils auf ihren heimatlichen Höfen beschäftigt waren. Die entsprechende Anzahl wurde jedem aus den 160 jungen Männern zugeteilt, die als bisherige Angehörige einer ostpreußischen Arbeitsdienstabteilung meiner Einheit inkorporiert waren. Darunter auch der jüngste Sohn des Feldmarschalls Ritter von Leeb. Als mir etwa um 18.00 Uhr gemeldet wird, daß Feindpanzer in Garmisch einrollen, lasse ich die Gewehre vernichten. Während ich Hunderte von vorbereiteten Papieren unterschreibe, ertönt gegen 20.00 Uhr von ausgestellten Posten plötzlich der Ruf „SS kommt!"

Tatsächlich betritt ein Oberst der Waffen-SS mit Adjutant und Fahrer unseren Raum, in dem ich, umgeben von 12 jungen Offizieren, sitze. Als der Oberst mich anherrscht: "Was tun Sie hier?" ziehen wir alle die Pistolen. Der Oberst, sein Name ist Schauen, erklärt, daß er der Sonderbeauftragte Heinrich Himmlers für die Alpenfestung sei. Nach einem heftigen Wortwechsel setzt er sich und sagt: "Machen Sie weiter!" Ich: "Nicht bevor Sie mich selbst aus der Wehrmacht entlassen haben!" Er läßt bei der Frage: "Führung in der Wehrmacht", in meine Papiere schreiben: "Sehr gut" und unterschreibt meinen Entlassungsschein, den ich noch heute im Original besitze...

Gegen 24.00 Uhr verläßt uns der ungebetene Besuch, fragend, wie er ohne Feindberührung nach München komme. Etwa um 2.00 Uhr des 30.4. bin ich noch der einzige Zurückgebliebene. Ich kann weiterhin telefonieren, da die Amerikaner alles, nur nicht das Postamt, besetzt haben, wie mir das Fräulein vom Dienst dort schildert. Ich erinnere Dr. Salm, den Chefarzt, an unsere Abmachung. Er erwartet mich, trotz der Ausgangssperre um 8.00 Uhr am Lazarett „Drei Mohren".

Nach kurzer Zeit des Schlafes auf einer Wirtshausbank - ich hatte noch lange mit dem verzweifelten Wirt, der 2 oder 3 Söhne im Krieg verloren hatte, geredet -, nahm ich meinen Tarnanzug aus Fallschirmseide, zog ihn an und marschierte gegen 7.00 Uhr, im übrigen mit Bergmütze, Koppel, Kartentasche und Doppelglas ausgerüstet, los. In den Wiesen, die damals noch zwischen dem Kramerplateauweg und Garmisch lagen, waren Flakstellungen der Amerikaner. Meist Negersoldaten wärmten sich an Feuern und spielten Handharmonika. Viele schauten mich an, aber niemand fragte mich. Erst 50 m nördlich des Lazaretts "Drei Mohren" wurde ich von einem LKW aus angehalten und von den Soldaten umringt. Ich antwortete auf ihre Frage: "I come from the Hotel Sonnenbichl and will go to the near Hotel Drei Mohren!" Ein Feldwebel gab mir einen Begleiter mit. Als dieser hinter der Glastür des Lazaretts Ärzte und Schwestern in Phalanx aufgebaut sah, grüßte er mich stramm und ich betrat das Lazarett. Damit war der Krieg für mich beendet.


Gez. H Müller-Brandeck

 

 

© Alois Schwarzmüller 2006