Alois Schwarzmüller

Beiträge zur Geschichte des Marktes Garmisch-Partenkirchen im 20. Jahrhundert

 

 

Georg Schütte – Mensch, Demokrat, Bürgermeister

 

10. Realpolitiker: Bürgermeister- und Landtagskandidatur 1946

Für die Landtagswahlen am 27. Januar 1946 nominierten die Garmisch-Partenkirchner Sozialdemokraten ihren kommissarischen 1. Bürgermeister Georg Schütte: mit dieser Begründung zum Spitzenkandidaten, „da sich die SPD ihrer fruchtbringenden Arbeit für die Allgemeinheit sicher ist" und weil "die Stimmung für die kommenden Wahlen äußerst optimistisch" ist. Der Wahlaufruf aus dem Januar 1946 beschrieb den mutigen Realpolitiker Schütte: Es heißt da, "er war Sozialdemokrat schon zu einer Zeit, da es noch gar nicht einfach war, sich zu dieser Fahne und ihrem Programm zu bekennen. Als kleiner Geschäftsmann hatte er wirtschaftlichen Boykott und berufliche Schikanen nicht gescheut. Lange vor der Hitlerzeit stand er als 2. Bürgermeister seiner Heimatgemeinde auf einem exponierten Posten. Selbstverständlich war es für ihn, sich sofort nach dem Zusammenbruch der braunen Gewaltherrschaft wieder zur Verfügung zu stellen und in schwerster Zeit die Geschicke seiner Gemeinde in aufopferungsvollster Arbeit in die Hand zu nehmen".

   
  SPD-Flugblätter zur Gemeinderats- und Kreistagswahl 1946  

  Auch die Persönlichkeit des Kandidaten Schütte wurde hervorgehoben: Er sei ein Mann, der „bei all seiner konzilianten Art ein sehr energischer, zielbewusster und erfolgreicher Unterhändler ist, der die ihm anvertrauten Interessen, wenn es sein muss, auch mit einem gesunden bayerischen Dickkopf durchzufechten vermag." Seine Arbeit liege vornehmlich im Wirtschaftlichen. Er sei kein Illusionist und kein Träumer, wo er hingestellt werde, lege er praktisch Hand an.

Dem Realpolitiker Schütte waren die wirtschaftlichen Möglichkeiten seiner Heimat immer bewusst, daher legte er sich für den Fortbestand des Fremdenverkehrs ins Zeug. Fremdenverkehr, das war in Zeiten  der Flüchtlingsnot, der Evakuiertenmisere und des Wohnungselends wenig populär. Schütte dachte aber nicht allein an heute und morgen, sondern auf lange Sicht: „Es würde sich sehr bald bitter rächen, wenn wir all unsere Kraft darauf richten wollten, nur zusätzlichen Wohnraum zu schaffen. Den Menschen wäre ein schlechter Dienst erwiesen, wenn wir nicht alle unsere Sorge gleichzeitig darauf richten würden, unsere Wirtschaft wieder in Gang zu bringen."

So war denn auch Schüttes Rechenschaftsbericht für das Jahr 1945 unter der Überschrift „Bilanz einer Leistung“ zugleich ein lokalhistorischer Rückblick auf dieses Jahr: „Garmisch-Partenkirchen wurde Mittelpunkt der amerikanischen Truppen und Sitz der Militärregierung des Kreises." Das bisherige Bürgermeisterzimmer wurde zum Geschäftszimmer des Kommandeurs der amerikanischen Militärbehörde. Alle Verbindungen mit deutschen Behörden waren abgebrochen. Befehle der Militärregierung waren auszuführen, Bitten und Gesuche der Bevölkerung waren vorzubringen.  Ein großer Teil der Häuser und Wohnungen musste für Truppenquartiere geräumt werden, die Bevölkerung suchte sich anderweitig Notunterkünfte. Im Eisstadion und im Kurpark wurde ein Gefangenenlager für Angehörige der ungarischen Armee eingerichtet.

  Eisstadion - 1936 Schauplatz für die IV. Olympischen Winterspiele - 1945 provisorisches Lager für deutsche Kriegsgefangene Kurpark Garmisch - 1945 vorübergehendes Lager für ungarische Kriegsgefangene  
  1945 - Displaced Persons Garmisch 1938-1945 Fremdenverkehrsstatistik des Landkreises  
   
  10.08.1945 - Liste der Häuser und Wohnungen, die in Garmisch-Partenkirchen von US-Soldaten besetzt waren 12.07.1948 - Gewerbeanmeldungen rassisch Verfolgter
in Garmisch-Partenkirchen
 
   
  Hochland-Bote 05.02.1946 - Statistik mit Personen, Wohnungen und Beschäftigten im Landkreis Garmisch-Partenkirchen  

Die dem Bürgermeister gestellten Aufgaben waren beispiellos: Unterbringung und Fürsorge für Ausländer und rassisch Verfolgte, Eindämmung der Plünderung, Freigabeerwirkung für Motorfahrzeuge zur Sicherstellung der Ernährung der Bevölkerung und des inzwischen in der Jägerkaserne errichteten Interniertenlagers. Zur Verhinderung von Seuchen mussten Ausweichkrankenhäuser geschaffen werden.

  1945 - Plakatentwurf
von Carl Reiser
1946 - Wahlempfehlung für Georg Schütte bei der Gemeinderatswahl
am 29. Januar 1946
 
 

 

Am Vorabend der ersten Gemeindewahlen "nach tausend Jahren" Diktatur und Krieg lud die örtliche SPD  zu einer Versammlung mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Wilhelm Hoegner ein. Am 28. September 1945 war Fritz Schäffer, Hoegners Vorgänger, von der US-Militärregierung abgesetzt worden  weil er sich in deren Augen nicht nachdrücklich genug um die Entnazifizierung bemüht hatte. Sein Nachfolger, in dessen Kabinett sich neben Sozialdemokraten und CSU-Politikern auch ein KPD-Mitglied befand, hatte sich die folgenden Ziele gesetzt: "1. Entnazifizierung und Wiedergutmachung; 2. Verfassungspolitik: Wiederherstellung eines bayerischen demokratischen Staates und deutschen Bundes; 3. Neuaufbau des Parlamentarismus." Hoegner sprach in Garmisch-Partenkirchen über „Die politische Lage“, Schütte zur Frage „Was wird aus Garmisch-Partenkirchen werden?“ Viele Besucher waren gekommen - nicht allein wegen des Hinweises auf den Einladungsplakaten "Der Saal ist geheizt."

Das Wahlergebnis freilich erwischte die SPD kalt: Nicht Schütte wurde zum 1. Bürgermeister gewählt, sondern sein bisheriger Stellvertreter Bernhard Lödermann (BVP/CSU).

Der wichtigste Förderer Schüttes in dieser schweren Zeit wurde jetzt Rechtsanwalt Dr. Carl Roesen. Roesen hatte sich zwei Tage nach der Wahl, am 29. Januar 1946, an den CSU-Vorsitzenden Karl Hartenstein gewandt und ihn davor gewarnt, den CSU-Kandidaten Franz Renk zu nominieren. Seine Begründung: „Eine von parteipolitischen Erwägungen und Ortsteilsinteressen freie Bürgermeisterwahl wäre die beste Demonstration einer antifaschistischen Gesinnung.“ Außerdem, so fügte er hinzu, habe Schütte die „schwierige Situation im Mai“, also den Übergang vom Krieg zum Frieden, von der Diktatur der Nazis zur Besatzungszeit der Amerikaner „mit viel Geschick und Erfolg“ gemeistert. Schütte habe kommunalpolitische Erfahrung und „bewiesen, dass er die Kommunalpolitik von Parteipolitik freizuhalten vermag.“ Gemeinderat Karl Hartenstein (CSU) war sofort bereit zur Zusammenarbeit: „Wir haben beschlossen, Herrn Georg Schütte zu bitten, den Posten des 2. Bürgermeisters anzunehmen mit gleichen Rechten und Pflichten, weil wir damit unsere Anerkennung für die unter schwierigen Umständen geleistete Arbeit ausdrücken wollen.“ 1. Bürgermeister Bernhard Lödermann (CSU) erklärte: „Dem bisherigen Gemeinderat und in erster Linie unserem verehrten Bürgermeister Schütte möchte ich an dieser Stelle danken für die aufopfernde gewissenhafte Arbeit, die ohne jegliche Parteivoreingenommenheit ein ersprießliches Arbeiten ermöglichte… Wir vereinigen uns nicht, um politische Gegensätze auszutragen, sondern um sachliche, segensreiche Arbeit zu leisten.“

Der neugewählte Kreistag Garmisch-Partenkirchen trat im Februar 1946 zu seiner ersten Sitzung mit der Wahl des Landrats zusammen. Bürgermeister Schütte als Fraktionsführer der Kreistags-SPD „legte die Meinung seiner Partei über die Person eines neu zu wählenden Landrates dar, der kein Jurist zu sein brauche, aber ein Mann sein müsse, der den Forderungen Garmisch-Partenkirchens als Fremdenverkehrsort Rechnung trägt.“ Die SPD betrachte es als selbstverständlich, dass die CSU als stärkste Partei den Landrat stelle; er schlug Fritz Stanner, Hotelier in Partenkirchen, als Kandidaten vor. Die CSU vertrat die Ansicht, dass nur ein Jurist Landrat sein könne und schlug Rechtsanwalt Dr. Emil Kessler aus München vor. Gewählt wurde Dr. Emil Kessler.

 











 
Georg Schütte 1946 -  Mitglied der Bayerischen Verfassunggebenden Versammlung in München

Mit den Wahlen zum Verfassungsgebenden Bayerischen Landtag am 30. Juni 1946 öffnete sich für Georg Schütte ein neues Betätigungsfeld. Er wurde Mitglied der Verfassunggebenden Versammlung für die Wahlkreise Garmisch-Partenkirchen, Tölz, Starnberg und Schongau. Seine Kandidatur stand unter dem Leitsatz „Frieden, Freiheit und Sozialismus“. Zwei Tage vor der Wahl sprach Schütte über sein Programm und über seine politischen Grundauffassungen. Die bayerischen Wähler haben es jetzt in der Hand, so sagte er, „sich Frauen und Männer zu wählen, die willens sind, für eine freiheitliche und fortschrittliche Verfassung einzutreten. Die Verfassung ist die Grundlage eines geordneten Staatswesens.“ Sie muss die politischen Freiheitsrechte der Staatsbürger sichern und das Verhältnis zwischen dem Staat und anderen Körperschaften, Gemeinden, Religionsgemeinschaften, dem Wirtschaftsleben, insbesondere auch Sozialpolitik und Arbeit ordnen. Die wirtschaftliche Tätigkeit muss dem Gemeinwohl dienen. Schütte: "Das fordert die Sozialdemokratie im neuen Verfassungsentwurf. Sie fordert es nicht seit heute und gestern, sondern seit 80 Jahren. Wie viel Leid wäre unserem Volke erspart geblieben, wenn diese Forderung gehört worden wäre. Zieht aus der Katastrophe die Folgerung! Brecht mit dem Herkömmlichen und geht an den Neubau einer Wirtschaft, die den schaffenden Menschen und nicht das Geld In den Mittelpunkt rückt.“ Die Verfassung sollte zeigen, dass ein neuer Geist weht, der den Menschen in den Mittelpunkt der neuen Gemeinschaft stellt,  jedem die Möglichkeit, ob arm oder reich, verschafft, wirtschaftlich und sozial aufzusteigen und die Wirtschaft und ihren Ertrag allen Menschen zuzuführen. „Von diesem Geist muss die neue Verfassung erfüllt sein. Weg aus der düsteren Vergangenheit! Wählt die Vertreter der Schaffenden in Stadt und Land! Nur sie kennen Eure Sorgen, weil sie diese Nöte am eigenen Leibe spüren.“

Im Dezember 1946 stellte Schütte sich unter dem Motto „Für Frieden, Freiheit und Recht“ zur Wahl als Landtagsabgeordneter für die Wahlkreise Garmisch-Partenkirchen, Tölz, Starnberg und Schongau. In gut besuchten Versammlungen sprach er in Rottenbuch, Ohlstadt und Oberau und in vielen anderen Orten. Die Presse zeichnete ihn aus als „Redner, der sich großer Beliebtheit erfreut,“ der in den Versammlungen lebhaft begrüßt wurde und dessen Ausführungen mit allgemeinem Beifall belohnt wurden. Schütte versicherte, „dass die SPD getreu ihrer Tradition auch in Zukunft als Partei des kleinen Mannes Hüterin und Betreuerin der Interessen des schaffenden Volkes bleiben werde. Der Wähler entscheide sich mit der SPD für Frieden, Freiheit, Recht und Gesetz.“ Schütte war erfolgreich mit seiner Kandidatur und blieb bis 1950 Mitglied des ersten Bayerischen Landtags nach Diktatur und Weltkrieg.

 

11. Gegen neuen Faschismus - Für Jugend- und Frauenbewegung

Im März 1946 wurde im Festsaal Garmisch-Partenkirchen von der Hilfestelle für politisch und rassisch Verfolgte eine Gedenkveranstaltung abgehalten. Herr Arlitowitz, Betreuer der Verfolgten und ehemaligen KZ-Häftlinge,  sagte: „Solange es den Nazis gut geht, muss es den KZlern besser gehen.“ Als Vertreter der Sozialdemokratie gab Bürgermeister Schütte einen Abriss über die Untaten des Faschismus. Er habe zu den Formen geführt, wie sie Mussolini und Hitler der Welt präsentierten. Die Fememorde an Rathenau und Erzberger waren die leisen Anfänge einer Mordherrschaft, die über den 10. März 1933, den 30. Juni 1934 bis zu den Grausamkeiten der KZ führte. Schütte „lehnte eine Kollektivschuld ab, forderte aber eine kollektive Sühne und Wiedergutmachung durch das ganze Volk.“ 

Im Februar 1947 wurde in Nürnberg ein Bombenattentat verübt - betroffen waren die SPD-Verwaltung, die Oberstaatsanwaltschaft und die Spruchkammer. Es war nicht das erste seiner Art, die nazistische  Urheberschaft dieser Anschläge war offensichtlich. Die Entnazifizierung in Deutschland war "unpopulär".  Schütte kommentierte dieses feige Attentat mit dem Ruf "Schluss mit der Schwäche!". In seiner Rede beim Werdenfelser Protesttag gegen die Attentäter erinnerte er an die Zeit von 1919: "Die Demokratie war zu anständig und hat die Offiziere mit Pensionen versehen, mit denen sie ihre Freikorps und die Verbrecherorganisationen finanzierten. Die zurückliegenden zwölf Jahre waren eine Kette von Verbrechen. so dass man geradezu verzweifeln könnte, dass es Menschen gibt, die so etwas wieder herbeisehnen." Wenn jemand der Besatzungsmacht dankbar sein müsse, dann die Nazis selbst, denn ohne Besatzer hätte das deutsche Volk schon in den ersten Tagen gründlichst „entnazifiziert".

Für Schütte war Wiedergutmachung von NS-Unrecht eine Ehrenpflicht der Demokratie. Allen, die durch KZ und politische Verfolgung im Dritten Reich gelitten hatten, musste im Rahmen der  Möglichkeiten geholfen werden: „Es wird aber in vielen Fällen unserem Volke nicht möglich sein, die materiellen Verluste zu ersetzen, das größere Gewicht wird auf die moralische Hilfe gelegt werden müssen." Die Dienststellen des Staates und die politisch Verfolgten sollten in engstem Kontakt versuchen, den Menschen, die wirklich für ihre Überzeugung, wegen ihrer Rasse oder ihrer Gesinnung verfolgt waren, tatkräftig zu helfen und ihre Ehre zu retten.

 

Opfer der Nationalsozialisten im Landkreis Garmisch-Partenkirchen




 
  Iwan Gwosdik (1931-1944)
Zwangsarbeiter  aus der Ukraine
 + im AEL Innsbruck
Hedwig Blum (1882-1941)
Opfer des Holocaust
+ in Kaunas
Karl Christoph (1894-1969)
aus Garmisch
1933-1935 im KZ Dachau
 


 
  August Speer (1899-1940)
aus Unterammergau
 + im KZ Mauthausen
Alfred Hirsch (1889-1942)
 - 10.11.1938  "Judenaktion" 
+ im KZ Auschwitz
Leonhard Kraus(1890-1940)
aus Untergrainau
+ im KZ Mauthausen
 

 

In der Kreisjugendwoche des Landkreises Garmisch-Partenkirchen kam die angebliche „Verwahrlosung der Jugend“ zur Sprache. Landrat Dr. Kessler erklärte, "die jetzige Jugend sei die erste Generation, die nicht den Fluch der Vergangenheit trage und auf die das Ausland mit Vertrauen blicke." Er forderte die jungen Leute auf, zu den "alten deutschen Werten zu halten und sich ein Beispiel an den Werken eines Walther von der Vogelweide, eines Martin Luther, an Goethe und Bach zu nehmen." Bürgermeister Schütte ermunterte die Jugend, an die vergangene Nazityrannei zu denken und daraus zu lernen, damit nie wieder eine Jugend im „Heldentod“ auf den Schlachtfeldern verbluten müsse. Die junge Generation darf nicht den Eindruck gewinnen, dass Demokratie Hunger, keine Hose und keine Schuhe bedeute: „Als höchstes Ideal setzt die Nächstenliebe!“ Das Ausland, das die Kinderspeisung ermöglichte, werde man um neue Lebensmittelsendungen bitten.

Unter der Abkürzung G. Y. A. (German Youth Activities) stellte die amerikanische Militärregierung seit 1947 ihr Programm zur Jugenderziehung in ihrer Besatzungszone vor. Die deutsche Jugend sollte mit den Ideen und Grundsätzen der demokratischen Lebensweise der USA bekannt gemacht und den Ideen der Hitler-Jugend entzogen werden. Ziel des Umerziehungsprogrammes, demokratische Prinzipien in den Köpfen des deutschen Volkes so zu manifestieren, dass Deutschland wieder in der Lage war, in den friedlichen Bund der Nationen aufgenommen zu werden. Dadurch sollte eine von Deutschland ausgehende Bedrohung des Weltfriedens für immer ausgeschlossen werden.

 

   
  1946 - Kohlenkarte aus der Nachkriegszeit 1945 - US-Anleitung für GYA  

 

Schüttes Grundgedanke war, "die Kinder von heute, die die eigentlichen Opfer des Krieges sind, fühlen sich verloren, vergessen." Vielfach waren sie schlecht ernährt und gekleidet, hatten kaum Gelegenheit, sich zu unterhalten, zu arbeiten und weiterzubilden. Um ihnen dazu Möglichkeiten  zu geben, wurden in der US-Zone derartige Einrichtungen geschaffen. Kinder und Jugendliche durften tagsüber kommen, lesen, Sport treiben, sich körperlich und geistig fortbilden. Die US-Armee stellte dazu Sportgeräte und Spiele sowie Bücher und Zeitschriften zur Verfügung. Die personelle Betreuung und Leitung übernahmen amerikanische Fachkräfte. Der amerikanische Glaube, dass Demokratie auch eine Frage der Erziehung sei, wurde hier ganz offensichtlich erfolgreich umgesetzt.

In Garmisch-Partenkirchen stand dafür ein großes, gut ausgestattetes "Clubhaus"  im ehemaligen Kurhaus Garmisch zur Verfügung. Der "Club" war von 9 Uhr  morgens bis 17 Uhr nachmittags geöffnet. Es war auch höchste Zeit geworden, um auf diese Weise den verführerischen Nachwirkungen der HJ-Erziehung zu begegnen, z.B. mit einer GYA-Show im "Alpenhof"-Casino.

Auch die Arbeiterwohlfahrt des Kreises Garmisch-Partenkirchen kümmerte sich - unter der Leitung von Ria Knapp - im Forsthaus Vordergraseck, im Café Panorama und im Reintalerhof um unterernährte, kranke Kinder und Jugendliche. In einem Bericht des Garmisch-Partenkirchner Tagblatts wurde 1947 beschrieben, wie 35 Buben im Alter von sechs bis 13 Jahren "in 17 luftigen Zimmern untergebracht sind. Kurz nach acht Uhr ertönt der Gong, und damit beginnt der unbeschwerte Tageslauf der Kinder. Bei gutem Wetter werden sie von ihrem Betreuer und einer freundlichen Pflegerin auf Spaziergängen begleitet. Nach dem Essen ruht die lebendige Schar zwei Stunden lang in den von Amerikanern, gestifteten Feldbetten auf der Liegewiese. Die Gewichtszunahme während des vierwöchigen Aufenthaltes beträgt durchschnittlich sechs Pfund." Beispiel war ein 16jährigen Dreher: "Er wog bei seiner Ankunft 28 kg, hat neun Geschwister und keine Mutter mehr. Aber auch die anderen Jungen sind ärmste Großstadtjugend oder Flüchtlingskinder, die ihre Jugendjahre zum größten Teil in Luftschutzkellern verbracht haben." Außerdem erhielten sie sozialpolitische und gewerkschaftliche Schulungen. Im letzten Kurs wurden 120 Bücher - vor allem Fachliteratur - aus der Bibliothek gelesen. Wohltuend empfanden die Lehrlinge vor allem das Zwanglose und Unmilitärische dieser Erholungstage.

Die bürgerliche wie auch die gewerkschaftliche Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts hatten in dünnen Spuren auch im Werdenfelser Land zur Weimarer Zeit Eingang gefunden und das Dritte Reich mühsam genug überlebt. Die bürgerliche Frauenbewegung kämpfte um Bildungschancen, für die Arbeiterinnen standen das Frauenwahlrecht und die gewerkschaftliche Organisation im Mittelpunkt. Die einen kämpften um das Recht auf Bildung, die anderen wollten Frau integrieren in Parteien und Gewerkschaften.

 
 
  1894 - Fotomontage mit den Vordenkerinnen der deutschen Frauenbewegung  Lisa Albrecht (1896-1958))
SPD-MdB 1949-1958
 in Mittenwald
1914 - Vierter Deutscher Frauentag der SPD   

 

Die Frauenbewegung konnte auch in Garmisch-Partenkirchen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Fuß fassen. Im April 1946 wurde im Rathaussaal die Konstituierende Versammlung des Süddeutschen Frauenarbeits-Kreises eröffnet, dessen Mitglied auch die spätere Mittenwalder SPD-Bundestagsabgeordnete Lisa Albrecht war. Gäste waren US-Major Tracy und die Bürgermeister Lödermann und Schütte. Sie sahen und lobten ein „neues Aufblühen der von den Nazis vernichteten Frauenbewegung.“ Sprecherinnen und Sprecher waren der Anglist Professor Levin Ludwig Schücking aus Farchant, Professor Ernst Reisinger aus Schondorf/Ammersee und Hanna Solf, Witwe des durch seine Humanität berühmten deutschen Botschafters in Tokio Dr. Wilhelm Solf.

 


  Levin Ludwig Schücking (1884-1952) nach einem Gemälde
 von Bernhard Pankok (1899)
1919 - Landerziehungsheim Schondorf, geführt von Ernst und Julie Reisinger Hanna Solf (1887-1954) 1947 bei einer Zeugenaussage der Nürnberger Prozesse  
 

 

12. "Linkskoalition mit der Bayernpartei" - Erster Bürgermeister 1948

Peter Maier, Vorsitzender der Garmisch-Partenkirchner SPD, und Georg Schütte bereiteten bei der Mitgliederversammlung im März 1948 – „Parteilokal“ war inzwischen das Bayernstüberl in der Hindenburgstraße – die kommenden Gemeindewahlen vor. Schütte hatte ganz konkrete Vorstellungen von der Ge
Ria Knapp
meinderatsliste
: Die Kandidaten wurden auf die Ortsteile Garmisch und Partenkirchen gleich verteilt, Heimatvertriebene sollten auch dann auf die Liste genommen werden, wenn eine eigene „Flüchtlingsliste“ aufgestellt würde. Nur der sei willkommen, der „fest zur SPD steht“ und der guten Gewissens sagen könne, er sei „rein“, also nicht in nationalsozialistische Machenschaften verstrickt. Es kandidierten zwei Frauen – Friederike Braun und Ria Knapp – und 18 Männer: Georg Schütte, Peter Maier, Bertold Luke (Vertreter der Heimatvertriebenen), Josef Reiser, Anton Grasegger, Jakob Schmid, Josef Höllerer (Leiter der Oberrealschule Garmisch-Partenkirchen), Hans Ebert, Franz Heiß, Rudolf Mainzer, Otto Reiter, Anton Buchwieser, Paul Wiesenthal, Professor Alexander Cap, Reinhold Kohtz, Matthias
  Ostler, Rudolf Bayer und Ludwig Bauer.

Der neue Gemeinderat wählte 1948 in geheimer Wahl den 1. Bürgermeister – übrigens zum letzten Mal in dieser Weise, seit 1952 wird der Bürgermeister direkt vom Volk gewählt. SPD-Fraktionsvorsitzender Höllerer schlug Georg Schütte als Bürgermeisterkandidat vor. Seine Bürgermeistertätigkeit habe anerkennende Zustimmung in allen Kreisen der Bevölkerung gefunden.

Die CSU blieb skeptisch: Es werde in der Öffentlichkeit der Marktgemeinde, des Landkreises und ganz Bayerns Aufsehen erregen, wenn heute in der zu über 80 Prozent konservativ und christlich-bürgerlich orientierten Marktgemeinde Garmisch-Partenkirchen ein Vertreter der sozialistischen Minderheit zum Bürgermeister gewählt werden sollte. Sie nominierte Dr. Emil Kessler.

 Georg Schütte
 1. Bürgermeister 1950
Alois Maderspacher
 2. Bürgermeister 1950
Josef Kratzmair,
3. Bürgermeister 1950

 

Aus der geheimen Wahl im Gemeinderat ging Georg Schütte mit 19 Stimmen als Bürgermeister hervor. Dr. Kessler erhielt 12 Stimmen, 1 Stimmzettel war ungültig. Bürgermeister Schütte dankte in einer kurzen Rede für das ihm erwiesene Vertrauen und würdigte seinen Amtsvorgänger Lödermann. Die Wiedererweckung des Fremdenverkehrs bezeichnete er als Ziel seiner kommenden Arbeit im Rathaus. Zu seinen Stellvertretern als Bürgermeister wurden Alois Maderspacher (BP) und Josef Kratzmair (Wirtschafts- und Mittelstandsbund) gewählt. Georg Schütte freute sich darüber, dass erstmalig in der Geschichte von Garmisch-Partenkirchen eine Frau, nämlich
Johanna Schurda (19.05.1903-26.06.1971)
Johanna  Schurda, Sitz und Stimme Im Gemeinderat erhalten hatte.

Johanna Schurda wurde 1903 in Breslau geboren. Sie kam 1945 als Heimatvertriebene nach Garmisch-Partenkirchen, Klarweinstr. 21. 1934 hatte sie in Berlin geheiratet und 1938 Tochter Barbara bekommen. Sie veröffentlichte Gedichte - zu Themen wie Breslau, Freunde, Optimismus, Unsicherheit; im Vorwort zu Schurdas Gedichtsammlung "Irgend ein Wort" (Wien 1969) urteilte der Herausgeber: "Niemals gehörte sie zu jenen Schreibenden, für die die Literatur lediglich eine mehr oder minder rein schöngeistige Sache, etwa im Sinne einer veralteten Gartenlaubenromantik war." Nach den Berliner Jahren wurde sie Sozialarbeiterin und Krankengymnastin. Seit Kriegsende hatte sie als Fürsorgerin in acht verschiedenen Vertriebenen-, Flüchtlings- und Ausländerlagern gearbeitet. Von 1946 bis 1952 wirkte sie neben dem Fürsorgedienst am Landratsamt als Gemeinde- und Kreisrätin in Garmisch-Partenkirchen. Von 1954 bis 1964 lebte sie dann als Familienfürsorgerin in Ingolstadt, das ihr schließlich zur zweiten Heimat geworden ist. Hier starb sie 1971.
1946
kandidierte die Flüchtlingsfürsorgerin bei der Kreistagswahl für  die Union der Ausgewiesenen (Wahlvorschlag 10) und wurde gewählt. 1948 wurde sie zusammen mit Dr. Horst Fischer, Herrn Lücke, Dr. Scheel und Dr. Schmidt Mitglied im Kreisflüchtlingsausschuss.
1953 machte sie Schlagzeilen  mit dem Satz "Für solche Frauenfeinde hätte ich Sie nicht gehalten."  Vorausgegangen war die Ablehnung ihrer weiteren Tätigkeit als Familienfürsorgerin im Landratsamt Garmisch-Partenkirchen durch den Kreisausschuss
. Kreisrat Riedl aus Unterammergau  wollte Genaueres über die Gründe erfahren. Landrat Franz Renk (1896-1959) erinnerte an das Abstimmungsergebnis von 5 zu 3 im Kreisausschuss, mit dem eine Verlängerung der Tätigkeit Schurdas abgelehnt worden sei. Örtliche Frauenverbände protestierten heftig gegen die Ablehnung. Kreisrat Schütte empörte sich erregt darüber, dass man Frau Schurda „einfach auf Null geschoben" habe.

Kreisrätin Schurda informierte darüber, dass sich ihre politische Tätigkeit in beruflicher Hinsicht äußerst unangenehm ausgewirkt habe. Man habe ihr eine Anstellung in Aussicht gestellt für den Fall, dass sie sich nicht wählen lasse und ihr vorgehalten, dass sie ihren Dienst durch die Teilnahme an den Sitzungen versäumen würde. Sie antwortete, es wäre mit der im Grundgesetz verankerten Unantastbarkeit der menschlichen Würde unvereinbar, dass man einen Menschen in seiner Abwesenheit derart negativ beurteile, wie es ihr zu Ohren gekommen sei. Ein Außenstehender könne die Vielseitigkeit und Verschiedenheit der anfallenden Probleme im Fürsorgebereich kaum verstehen. „Für solche Frauenfeinde hätte ich Sie nicht gehalten!" Dieser bittere Satz brachte ihren Unmut auf einen Punkt. Bei den Heimatvertriebenen entstand der Eindruck, dass jemand aus ihren Reihen, der sechs Jahre lang zu voller Zufriedenheit gearbeitet hatte, „in die Wüste” geschickt werden sollte. Landrat Renk betonte dagegen, dass Johanna Schurda keineswegs aus politischen Gründen verdrängt worden sei.

Im März 1952, kurz vor den Kommunalwahlen, kommentierte die Heimatzeitung die Rolle von Frauen in den Gemeindeparlamenten: "Man lacht schon lange nicht mehr, wenn Frauen in einem Parlament ihre Stimme erheben und man hat gelernt, dass sie, auf Grund ihres stärkeren Einfühlungsvermögens, vorwiegend auf dem  sozialen Sektor manchen vernünftigen und in seiner Auswirkung segensreichen Vorschlag gebracht haben." Freilich - in Gemeindegremien und im Kreistag seien bisher Frauen auffallend wenig vertreten gewesen. "Im Gemeinderat der Marktgemeinde ist es seit Jahren der blonde Haarkranz einer einzigen Frau, die zwischen würdevollen Männerhäuptern das weibliche Element bei den Sitzungen vertritt und die gleiche Frau hatte auch vier Jahre lang unter Männern im Kreistag Ihre Fakultät vertreten." Da habe etwa die Frau

Lothar Mayring (1950-1980), Chefredakteur des Garmisch-Partenkirchner Tagblatts - Foto: privat

 Kreis- bzw. Gemeinderätin als erste den Vorschlag gemacht,  "das Dach in der Baracke in der Gehfeldstraße reparieren zu lassen, wo die Ausgewiesenen mit aufgespanntem Regenschirm im Bett lagen."  Der Beifall der Betroffenen war ihr gewiss, das Misstrauen anderer wohl ebenfalls.

Der Chefredakteur des Hochland-Boten, Lothar Mayring (1915-1980) nannte 1952 den Wahlausgang bei der Wahl des 1. Bürgermeisters "eine politische Kräfteverlagerung". Die Wahl eines Sozialdemokraten in einer überwiegend nichtsozialdemokratisch empfindenden Bevölkerung sei, so Mayring, nur ein äußerer  Aspekt. Die Entscheidung der Bayernpartei zu einer Linkskoalition deute jedoch eine politische Kräfteverlagerung an, die nicht nur in Garmisch-Partenkirchen, sondern unter Umständen von prinzipieller Bedeutung sei. Und er sollte recht behalten: Schon im folgenden Jahr kam es im Bayerischen Landtag zur Bildung einer Viererkoalition auf Landesebene aus Sozialdemokraten, Bayernpartei, Freien Demokraten und BHE.   Ministerpräsident wurde der Sozialdemokrat Dr. Wilhelm Hoegner, Joseph Baumgartner von der Bayernpartei wurde sein Stellvertreter.

 

 

 

© Alois Schwarzmüller 2019