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Martin
Walser, 1927 in Wasserburg geboren und dort aufgewachsen, 1944 und 1945
zunächst im Arbeitsdienst, dann Flakhelfer und Soldat, nach Krieg
und Gefangenschaft Studium der Literatur, Geschichte und
Philosophie, bis 1957 Mitarbeiter beim Süddeutschen Rundfunk, zahlreiche
Preise für sein literarisches Werk (Büchner-Preis und Friedenspreis des
deutschen Buchhandels), Mitglied der Akademie der Künste Berlin ,
Mitglied des P.E.N., der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Darmstadt, 1998 stark umstrittene Paulskirchenrede zur Verleihung des
Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Kontroverse Walser-Bubis
Werke in Auswahl: Ehen in Philippsburg (1957), Halbzeit (1960), Eiche
und Angora. Eine deutsche Chronik (1962 ), Das Einhorn (1966), Die
Gallistl'sche Krankheit (1972), Das Sauspiel. Szenen aus dem 16.
Jahrhundert (1975), Ein fliehendes Pferd (1978), Seelenarbeit (1979),
Brandung (1985), Dorle und Wolf. Eine Novelle (1987), Die Verteidigung
der Kindheit (1991), Finks Krieg (1996), Ein springender Brunnen, (1998)
Der 18-jährige Martin Walser geriet bei
Kriegsende in amerikanische Gefangenschaft und wurde für eine Weile im
US-Internierungslager im Olympia-Eisstadion Garmisch-Partenkirchen
festgehalten.
Lektüre im Mai 1945 "Die war grandios. Ich war
im Gefangenenlager in Garmisch. Ich hatte gemerkt, dass unten drin die
Bibliothek des Reichssenders München exquartiert war. Ich bin also nicht
mehr zum Panzerwaschen auswärts gegangen, wo ich mein Weißbrot
verdiente, sondern habe mich zum Bibliothekar ernannt. Und habe drauflos
gelesen. Das Gefangenenlager habe ich mit einem Rucksack voller Bücher
verlassen: zwei Bände Stifter. Oskar Walzels Gehalt und Gestalt.
Ich war der Einzige im Lager, der keine Läuse bekam. Daraus schloss ich,
dass Stifter zu lesen die Läuse abhält."
In der
zeitabweisenden Stifterstille "Im Gefangenenlager also Adalbert Stifter. Zwei Bände Erzählungen. Von
mir erobert im Mai 1945. Weil die Amerikaner uns ins Eisstadion nach
Garmisch transportierten und dort - unten drin - die Bibliothek des
Reichsenders München Schutz gesucht hatte. Ich griff einfach zu. Was in
diesen Erzählungen passiert, weiß ich nicht mehr genau, aber daß ich das
Buch, in dem ich lesen wollte, immer aus dem Rucksack holen mußte und
bereit sein mußte, es, wenn jemand den Gefangenen zu irgendeiner
blödsinnigen Arbeit befahl, sofort wieder im Rucksack verschwinden zu
lassen, das ist mir geblieben. Solange ich las, lebte ich in der
zeitabweisenden Stifterstille. Enge und Gedränge des von Gefangenen
überfüllten Stadions konnten der Geräumigkeit der Stiftersätze nichts
anhaben. Rundum eine kochende Gerüchtebörse - was wird mit uns
passieren? -, ich im schönsten Abseits, an Läusen und Latrinenparolen
der Gegenwart einfach nicht interessiert. Und nichts als wahr ist: der
einzige in diesem drangvollen Gefangenenquartier, der nicht von Läusen
heimgesucht wurde, war der Leser. Möglicherweise ist die Ausdünstung des
Lesenden für Läuse nicht attraktiv. Und auch erstaunlich: es hat dann
ein amerikanischer Offizier, dem der Lesende aufgefallen war, den Leser
samt dem Rucksack voller Bücher in einem Jeep höchstpersönlich- und zwar
an einem Sonntag - vom Gefangenenlager in Garmisch bis knapp vors
Elternhaus im Dorf am Bodensee gefahren: damit ja den Büchern nichts
passiere. Von heute aus gesehen wurden sie dem Reichsrundfunk gestohlen.
Damals nannte man das: organisiert. Auf jeden Fall konnte im Sommer 45
endlich ungestört weitergelesen werden. Krieg und Nichtkrieg, wie
unwichtig war, was da passierte, verglichen mit dem großen
Fortsetzungsroman, der dann mit "Licht im August« von Faulkner
weitergeschrieben wurde. Aber gestimmt war der Leser von Stifter. »Alle
Schriftsteller, die er las, beschrieben seine Krankheit..." Es mag
monströs erscheinen, daß einer sich von keiner Apokalypse am Weiterlesen
hindern ließ. Aber es war einfach so. Um nicht ganz unmenschlich zu
erscheinen, suche ich dem Geschehenen einen hübschen Sinn -, Sinn finden
und, wo keiner ist, erfinden, ist ja des Lesers Spezialität -: dieses
Lesen vor Wahnsinnshorizonten war eine unaufschiebbare
Selbstvergewisserung. Die mußte sein. Ohne die war nichts. Gegenwart kam
erst in Frage, als dieses Vermögen, sie wahrzunehmen, sich durch Lesen
entwickelt hatte. Man kann dieses Vermögen nicht zählen und messen. Es
ist ein Vermögen, das einen in Stand setzt, der Welt mit einer Gegenwelt
standzuhalten. Es ist ein Vermögen, das jeder selbst geschaffen hat. Ein
Vermögen, das nur ihm gleichsieht, nur seinen Namen trägt, so nur ein
einziges Mal vorkommt. Alles, was uns von uns selbst abbringen will, was
uns beherrschen, über uns Macht ausüben will, hat es schwerer, weil wir
dieses Vermögen haben. Nein, wir haben es gar nicht, wir sind dieses
Vermögen. Aber sagen kann man das nur jemandem, der es schon weiß: einem
Leser eben."
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