April 1945 - Die Todesmärsche nach Mittenwald

 

 

 

 

 

Jakob Granek: "Feldafing, Garmisch, Mittenwald – diese Namen sind mir im Gedächtnis geblieben"

„Ich kam 1928 in Lodz (Polen) zur Welt und ging dort zusammen mit mei­nem Freund Michael Checinski in die Schule.

Im Alter von 13 Jahren wurden wir beide von den Nazis ins Ghetto von Lodz gesperrt, dann in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt und von dort aus etwa im Dezember 1944 kurz vor der Befreiung des Lagers durch die sowjetische Armee von der SS auf einen der berüch­tigten Todesmärsche geschickt.

Zunächst kam ich mit meinen Kameraden in das Konzentrationslager Dachau bei München. Dort wurde ich das Opfer barbarischer Menschenversuche. Wie ein Kanin­chen haben sie mich behandelt und bei schrecklicher Kälte nackt aus der Baracke gejagt, um anschließend meine Temperatur und andere medizinische Werte zu mes­sen und die Auswirkungen der Kälte an mir zu untersuchen. Ich war damals 17 Jahre alt.

Im April 1945 wurde ich auf den zweiten Todesmarsch ge­schickt. Zu­sammen mit vielen anderen Häftlingen wurde ich zunächst mit der Bahn aus dem Lager ab­transportiert, der Zug blieb aber gleich hinter Dachau stehen. Dann wurde ich mit meiner Gruppe von erbarmungslosen SS-Leuten zu Fuß Richtung Süden getrieben. Auf dem Weg lebte ich von Pilzen, die ich in rohem Zustand aß – das Salz lieferte die Tränen, die ich weinte. Die meisten Orte, die ich auf meinem Leidensweg durchquerte, sind mir namentlich nicht mehr bekannt, schließlich haben meine Be­wacher alles getan, um zu verhindern, dass ihr Opfer sich in irgend einer Weise orientieren oder gar Kontakt zur Bevölkerung aufnehmen konnten. Feldafing, Garmisch, Mitten­wald – diese drei Namen sind mir im Gedächtnis geblieben. Ich erinnere mich an die zahllosen Toten, die am Wegesrand von Garmisch-Partenkirchen nach Mit­tenwald lagen. Ich bin sicher, dass sie in mehreren Massengräbern entlang der Straße begraben wurden.

Kurz vor der Ankunft der US-Streitkräfte in Mittenwald konnte ich mich zusammen mit ei­nem Leidensgenossen in einem Abflussrohr vor unseren SS-Peinigern verste­cken. Schnee lag noch auf den Wiesen, es war bitterkalt. Die SS-Bewacher waren inzwischen geflohen. In einem nahe gelegenen Heustadl konnten wir zwei uns wenigstens ein bisschen auf­wärmen. Weiter ging die Flucht auf eine kleine Insel inmitten der noch von Eis bedeckten Isar.

Kurze Zeit später kamen amerikanische Soldaten und befreiten meinen Gefährten und mich. Man brachte uns zunächst in eine der beiden Mittenwalder Wehrmachtskasernen. Sechs Jahre lang hatte ich keinen Apfel mehr in der Hand gehalten, sechs Jahre lang kein Stück Fleisch gegessen. Jetzt küm­merte sich die UNRRA um mich. Am zweiten Tag nach meiner Befreiung besuchte ich einen Zahnarzt in Mittenwald – der erste Deutsche, dem bei meinem Anblick Tränen kamen. Helfen konnte er mir nicht, da nach jahrelanger Un­terernährung der Skorbut die Zähne gelockert hatte. Deshalb wurde ich im Lazarett Garmisch weiter versorgt. 28 Kilo wog ich zu diesem Zeitpunkt noch, ich war „eine lebendige Leiche“. Bei Garmischer Bauern tauschte ich amerika­nischen Kaffee gegen Hühnerfleisch.

Von Garmisch aus führte mich mein erster Weg nach Bergen-Belsen in Niedersachsen. Drei Wochen brauchte ich für diese weite Reise. Meine Schwester war bei Kriegsende von der englischen Armee aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit worden. Auch meine spätere Frau hatte die Hölle von Bergen-Belsen überlebt.“

Jakob Granek ist im Oktober 2004 in Hamburg gestorben

 

Diese Aufzeichnungen entstanden bei einem Telefongespräch mit Jakob Granek am 28. August 2004. Prof. Michael Checinski, sein Leidensgefährte in Auschwitz, hatte den Kontakt hergestellt.

 

 

© Alois Schwarzmüller 2004