Alois Schwarzmüller

Beiträge zur Geschichte des Marktes Garmisch-Partenkirchen im 20. Jahrhundert

 

 

 

"Berge, Feuer, Fahnen" - HJ in Garmisch-Partenkirchen

 

Jugend-Landheim „Tatkraft“ – Keimzelle der Hitlerjugend in Garmisch-Partenkirchen

 Seit 1928 wurden im Schülerheim „Tatkraft“ in Partenkirchen in der Wildenauerstr. 2 auswärtige Schüler betreut. Die meisten von ihnen besuchten die Staatliche Realschule mit Progymnasium Garmisch-Partenkirchen. Gründer und erster Leiter des Tatkrafthauses war Wilhelm Dolles. Er stammte aus München, war 38 Jahre alt und hatte Mathematik, Philosophie und Pädagogik studiert. Vor seiner Partenkirchner Zeit war er im Landschulheim Schondorf am Ammersee als Erzieher und Lehrer tätig. 1921 hatte er sich mit der Gründung des Schülerheims „Tatkraft“ in Ebenhausen selbständig gemacht, sieben Jahre später verlegte er den Sitz nach Partenkirchen. Das Schülerheim war staatlich genehmigt; es beherbergte 1928 32 Schüler.[1]

Die wichtigsten Lehrer in der Anfangsphase der Anstalt waren: Wilhelm Dolles (geb. 1890, seit 1934 verheiratet mit Gertrud Vauper), Gründer und Leiter der Lehranstalt; Otto Paul, Lehrer für Physik und Mathematik; Karl Wildstake (aus Landshut, geb. 1898, NS-Mitglied seit 1932) für Englisch; Karl Funk, Georg Straub (NS-Mitglied seit 1937); Josef Straub; Clemens Schöener (geb.1872); Pfarrer Ernst Lipffert, Evangelischer Religionsunterricht; Kaplan Schnell, Katholischer Religionsunterricht; Fritz Uhlich, Kunsterzieher; Wilhelm Melcher (aus München, geb. 1900, NS-Mitglied seit 1928), Lehrer für Deutsch und Geschichte. Der Garmisch-Partenkirchner Realschuldirektor Josef Höllerer hatte keine gute Meinung von ihm: Im Februar 1932 ließ er Bezirksamtmann von Merz wissen, „dass Melcher nicht viel leistet und sich den Unterricht bequem macht."

 

   
 

Werbung mit Postkarte (1931) und im Adressbuch Partenkirchen (1937): Das Landerziehungsheim TatKraft informiert über die schulischen Möglichkeiten.
Quelle: Marktarchiv Garmisch-Partenkirchen











 

 

 

Drei Jahre nach seiner Eröffnung geriet das Schülerheim „Tatkraft“ in den Verdacht, Zentrum der Hitler-Jugend in Garmisch-Partenkirchen zu sein. Bezirksamtmann Carl von Merz erhob am 24. November 1931 den Vorwurf, dass Dolles „nicht die nötige Kraft aufbringt, um der unter den unreifen Elementen des Heimes heftig spukenden Hitler-Idee richtig entgegenzutreten.“[2] Anlass für diese Feststellung war eine öffentlich gewordene Auseinandersetzung zwischen zwei Internatsschülern, dem Sohn des bekannten Schauspielers Friedrich Ulmer und dem Sohn des jüdischen Gesandtschaftsrates Hans Eduard Riesser an der deutschen Botschaft in Paris.[3] Ein weiterer Vorfall zeigte, dass die Zöglinge des Dolles-Heimes nicht davor zurückschreckten, die „Hitler-Idee“ auch in der Öffentlichkeit ganz dreist zu propagieren: Bei einem Ausflug auf den Berggasthof Eckbauer hatten sie an der Unterkunftshütte ein Hakenkreuzplakat befestigt – für jedermann gut sichtbar.[4] Mit dem Studienassessor Adolf Friedrich Sturm (aus Landau an der Isar, geb. 1902) unterrichtete in den ersten Jahren des „Tatkraft“ zudem ein Lehrer, der sich, wie die örtliche Polizeidienststelle feststellte, „sehr mit der Agitation für die NSDAP“ befasst hatte und Vorsitzender der 1928 noch kleinen NSDAP Ortsgruppe Partenkirchen war.[5] Dolles hatte ihn allerdings „auf Anraten“ von Bezirksamtmann von Merz nach kurzer Zeit entlassen.

Das Direktorat der Realschule Garmisch-Partenkirchen beobachtete ebenfalls, dass in Garmisch-Partenkirchen eine Gruppe der Hitler-Jugend agierte, „die sich in der Hauptsache aus Schülern und Zöglingen des „Jugend-Landheimes Tat Kraft“ in Partenkirchen zusammensetzt.“[6] Schulleiter Josef Höllerer stellte besorgt fest, dass die Propaganda für die Hitler-Partei auch vor den Schülern der Realschule nicht Halt machte. Besonders erfolgreich schien der Kegelclub des Heims zu sein, der „als Sache der Bewegung“ angesehen wurde.[7] Bezirksamtmann von Merz ermahnte daraufhin den Heimleiter mit dem Hinweis auf das „in Bayern bestehende Verbot der Teilnahme volksschulpflichtiger Kinder an politischen Vereinen und an politischen Versammlungen“.[8]

 

Es gab also mit dem Schülerheim „Tatkraft“ schon zwei Jahre vor der Machtübernahme der NSDAP kräftige Stimmung und rege Werbung für die Hitler-Jugend. Das Bezirksamt Garmisch unter der Leitung von Bezirksamtmann von Merz wollte aber diese Politisierung der Schüler nicht hinnehmen.

Der Konflikt zwischen Dolles und von Merz verschärfte sich im Dezember 1931. Vorausgegangen war eine sogenannter „Sprechabend der NSDAP“ im Werdenfelser Hof, dem Stammlokal der örtlichen Hitler-Anhänger. Bei dieser Veranstaltung hatte der „Jugendgauleiter“ der NSDAP, Emil Klein, 26 Jahre, über die „Jugendbewegung“ gesprochen und darüber, dass die Jugendlichen zu „tüchtigen u. für die Partei brauchbaren Menschen“ erzogen werden müssten. Dolles, der Leiter des „Tatkraft“, war bei diesem Vortrag persönlich anwesend und mit ihm waren auch Schüler und Eltern seiner Anstalt gekommen. Nach diesem Werbeabend für die HJ stellte Karl Betz, Besitzer der Garmischer Untermühle und nach 1933 NSDAP-Gemeinderat, seine Jagdhütte der Garmisch-Partenkirchner Hitler-Jugend unter ihrem Führer Herbert Weiß zur Verfügung.[9]

In diesem Umfeld zwischen „Tatkraft“ und NS-Jugendbetreuung fanden auch „Kriegsspiele“ statt, organisiert von „Jugendgauführer“ Klein.[10] Wilhelm Dolles hatte dazu eigene „Richtlinien für den Landheim-Kegelklub“ erarbeitet. Darin hieß es: „Das Heim erachtet es als seine vaterländische Pflicht, vor allem den älteren Jungen Gelegenheit zu körperlicher Ertüchtigung und zur Pflege gesunder vaterländischer Gesinnung zu geben.“ Zu den Geländespielen, die diesen Intentionen dienen sollten, wurden Mitglieder des „Jung-Stahlhelm“ und der „Marinejugend Vaterland“ eingeladen, zwei Organisationen, die 1933 nahtlos in die HJ übernommen wurden.[11]

Ende Dezember 1931 drohte das Bezirksamt Wilhelm Dolles mit der Schließung des „Tatkraft“-Heimes, wenn die „Freihaltung Ihres Heimes von politischen Strömungen“ nicht gewährleistet werden könne. Ausdrücklich wurde auch die Zusammenarbeit mit der Jugendgruppe des „Stahlhelm“ kritisiert, „da der Jungstahlhelm als politische Vereinigung anzusehen ist.“[12] Dolles selbst schien aus Sicht des Bezirksamtes kein glühender Anhänger der Nationalsozialisten zu sein, jedenfalls war es „nicht ohne weiteres erweislich“, dass er „nationalsozialistischen Gedankengängen nachhängt“. Er sei „nur furchtbar national“ und suche seine Schüler „im gleichen ethisch-deutschen Sinn zu erziehen.“[13] Dolles rechtfertigte sich gegenüber den Vorwürfen damit, „dass auch in anderen Anstalten und staatlichen Anstalten sich Hitler-Jugendzellen bilden, z.B. im Kloster Ettal.“ Von Merz hielt das „für durchaus möglich.“[14]

 

Im Oktober 1933 wurde dann ganz klar, wes Geistes Kind Wilhelm Dolles war: Er hatte vor, das „Tatkraft“-Heim zur Schule zu erweitern und ersuchte das Bezirksamt Garmisch um Genehmigung. Dort hatte inzwischen die NSDAP alle Macht in ihren Händen; Bezirksamtmann Carl von Merz war von einem linientreuen Nationalsozialisten abgelöst worden. Dolles versuchte die neuen Herren - neben Behördenchef Dr. Franz Fux gab es jetzt mit SA-Sonderkommissar Hans Hartmann noch einen zweiten mächtigen Mann – mit einem Buch, das er 1921 geschrieben hatte, zu beeindrucken. Der Titel: „Das Jüdische und das Christliche als Geistesrichtungen. Fragen und Erkenntnisse zur gegenwärtigen Lage unserer geistigen Kultur und Erziehung vom Standpunkt einer biologischen Auffassung des Seelenlebens“. Sein Doktorvater, so versicherte Dolles in seinem Brief an das Bezirksamt, hätte seine Schrift als Dissertation angenommen, er selbst aber habe Bedenken gehabt, „wegen der damaligen Verjudung der Hochschulen.“[15] Dolles erhielt mit diesem ideologischen Glaubensbekenntnis die Genehmigung zur Errichtung einer privaten Volksschule.

Wichtige Mitarbeiter des „Tatkraft“ gehörten der NSDAP an: Karl Wildstake, geboren 1898 in Landshut, bis 1930 Assessor an der Rupprecht-Oberrealschule München, später Leiter der „Oberschule für Mädchen“, war seit Februar 1932 NSDAP-Mitglied; Otto Paul, geboren 1896 in München, Fachlehrer für Mathematik und Physik und Mitglied der NS-Kreisleitung und Fritz Uhlich, Fachlehrer für Zeichnen, waren beide seit Mai 1933 bei der NSDAP. Wilhelm Melcher, geboren 1900 in München, war seit 1923 Mitglied und hatte am Hitlerputsch teilgenommen.[16]

Auch die Schüler wurden jetzt eindeutig ausgerichtet: Nach der Aufhebung des HJ-Verbots wurde der heimeigene Wehrsportverband „Jung-Bayern“ in die örtliche Hitler-Jugend übernommen. Am Abend des 30. Januar 1933 marschierte die Schülerschaft des „Tatkraft“, wie dem Jahresbericht zu entnehmen ist, „geschlossen“ beim Garmisch-Partenkirchner Fackelzug zu Ehren des neuen Reichskanzlers mit.[17] Jetzt musste sich die HJ nicht mehr im Verborgenen entfalten, jetzt war es Ziel der Erziehung im „Tatkraft“, „die pädagogischen Grundforderungen des Dritten Reiches in die Tat umzusetzen.“[18]

Wichtigster Helfer dabei war Wilhelm Melcher. Er wurde immer mehr zur Schlüsselfigur des Jugendlandheims. Auch in der lokalen Hierarchie der NSDAP spielte er seit 1934 eine Rolle: Melcher war Kreiskulturwart, er war Vorsitzender des Kreisgerichts der NSDAP, Mitglied des Gemeinderats Partenkirchen, dort Vorsitzender der NSDAP-Fraktion und Mitglied des Bezirkstags.[19]

 

   
 

Karl Ritter von Halt (1891-1964), 1936 Chef des  Organi-sationskomitees für die Olympischen Winterspiele 1936 in Garmisch-Partenkirchen

Werbetext für das "TatKraft"-Landschulheim in Partenkirchen: "Kleines Landschulheim für Interne und Externe (Mädchen nur extern). Kleine Klassen (Realgymnasium, Gymnasium und Realschule). Individueller Unterricht, eigene 9 Fachlehrer (Sportlehrer). Ausländerkurse. Reiche Erfahrung in Umschulungen. Nachweisbar beste schulische und gesundheitliche Erfolge... Prospekt durch die Direktion"

in: Adressbuch des Marktes Garmisch-Partenkirchen 1937

Hans von Tschammer und Osten (1887-1943), trat

1929 in die NSDAP ein, wurde Mitglied der SA, nach 1933 Reichssport-kommissar und  Reichssportführer

 

 

Im Februar 1934 verlegte das Jugendlandheim „Tatkraft“ seinen Sitz von der Wildenauerstraße 2 zum Kainzenbad und hieß jetzt „Deutsches Jugendlandheim Kainzenbad“. Ein Prospekt warb für das „Kleine Landerziehungsheim für gesunde Jungen aus nur guten Familien“. Bis zu 35 interne Schüler lebten und lernten im Haupthaus „Kainzenbad“ und im Nebenhaus „Sonnenheil“.[20] Karl Ritter von Halt, Chef des Organisationskomitees der IV. Olympischen Winterspiele 1936, schickte zu Zeiten, als er in Garmisch-Partenkirchen die Spiele vorbereitete, seinen Sohn Rüdiger ins „Pädagogium Alpinum“. Hans von Tschammer und Osten, Reichssportführer seit 1933, ließ seinen Sohn Kurt-Dieter (geb. 1923) von 1937 bis 1938 im „Alpinum“ erziehen. Beide, von Halt und von Tschammer und Osten, waren überaus wirksame Werbeträger für das Internat; beide waren aber auch im Sinne der Nationalsozialisten zuverlässige "Leitfiguren". Sie signalisierten, dass diese Schule samt Internat den erwünschten politischen Weg ging.

Ein interessanter Fall ist der des Schülers Donat-Oswald Freiherr von Richthofen, geb. 1920. Er mag einer der wenigen gewesen sein, die sich den „pädagogischen Grundforderungen des Dritten Reiches“ offen entzogen oder widersetzt haben. Im März 1937 musste er das „Pädagogium Alpinum“ verlassen. Wilhelm Melcher nannte als Grund für die Entlassung „seine betont antinationalsozialistische Einstellung, die ihn zu einer Gefahr für den Geist der Kameraden machte.“[21]

1935 kam es zu einer vermutlich geschäftlichen Auseinandersetzung zwischen Dolles und Melcher. Dolles schied im Oktober des Jahres aus. Kurze Zeit später starb er bei einem Unfall. Im Garmisch-Partenkirchner Tagblatt erschien am 25.10.1935 ein Nachruf. Melcher wurde jetzt alleiniger Inhaber des Heims. Er gab ihm den neuen Namen „Pädagogium Alpinum Kainzenbad“. Schulleiter wurde Paul Otto, der gleichzeitig in der NS-Kreisleitung die Funktion eines Kreisamtsleiters des NS-Lehrerbundes ausübte.

Mit dem Neubau der Garmisch-Partenkirchner staatlichen „Oberschule für Jungen“, mit dem 1939 begonnen wurde, kam das Ende des Schulbetriebs im „Pädagogium Alpinum“. Es blieb aber als Schülerheim bestehen. [22]

 

[1] Garmisch-Partenkirchner Tagblatt 25.10.1935
s.a. Wilhelm Dolles, Das Jüdische und das Christliche als Geistesrichtung. Fragen und Erkenntnisse zur augenblicklichen Lage unserer geistigen Kultur und Erziehung vom Standpunkte einer biologischen Auffassung des Seelenlebens (Langensalza, 1921, 165 S.) Heft 179 der Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung
[2] StAM LRA 61771 – Schülerheim Tatkraft, 24.11.1931
[3] s.a. Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann , Das Amt und die Vergangenheit: Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in  der Bundesrepublik (München 2010) S. 52 – Dort heißt es: „Flankiert von Gerüchten, die Riesser eine Verbindung zur Sozialdemokratie in früheren Jahren andichteten, lag der eigentliche Grund der Entlassung, über den wohlweislich geschwiegen wurde, offenbar in Riessers nichtarischer Abstammung, Ende Juli 1933 wurde der erfahrene Diplomat, nach 24-jähriger Dienstzeit als Beamter und nach 15-jähriger Tätigkeit im diplomatischen Dienst, in den einstweiligen Ruhestand versetzt.“
[4] StAM LRA 61771 – Schülerheim Tatkraft, 24.11.1931
[5] ebd.
[6] StAM LRA 61771 – Schülerheim Tatkraft, 27.11.1931, Bericht an das Bayerische Kultusministerium
[7] ebd.
[8] StAM LRA 61771 – Schülerheim Tatkraft, 01.12.1931
[9] ebd. 02.12.1931
[10] ebd.
[11] ebd.
[12] ebd. 21.12.1931
[13] ebd. 29.01.1932
[14] ebd.
[15] StM LRA 61733 – Pädagogium Alpinum 1932–1943, 15.10.1933
[16] ebd. 06.02.1934
[17] StM LRA 61733 – Pädagogium Alpinum 1932–1943, Mai 1933
       StM LRA 198951 – Verbot marxistischer Organisationen 1933: Aufhebung des Verbots der Beteiligung von Schülern an HJ,
       BdM, NS-Schülerbund, Jungstahlhelm und Scharnhorst-Bund am 10.03.1933
       StM LRA 61611 – Monatsbericht Bezirksamt Garmisch, 16.02.1933
[18] Garmisch-Partenkirchner Tagblatt 30.10.1934
[19] StM LRA 61733 – Pädagogium Alpinum 1932–1943, 06.02.1934
[20] ebd. 12.02.1934
[21] StM LRA 61733 – Pädagogium Alpinum 1932–1943, 23.03.1937
[22] ebd. 18.02.1939

 

 

© Alois Schwarzmüller 2016