Garmisch-Partenkirchen und seine jüdischen Bürger  -  1933-1945

 

 

 

 

Dr. Michael und Emmy Schnebel

Dr. Michael Schnebel, geboren am 10. April 1867 in Nürnberg, bayerischer Staatsangehöriger, stammte aus einer fränkischen Brauerfamilie. Geschäftsreisen durch viele europäische Länder weckten seine  Sprachbegabung und sein Interesse für die Geschichte. Bis zum Jahr 1930 lehrte er an der Ludwig-Maximilian-Universität München, seine Spezialgebiete waren die Alte Geschichte und die Papyrologie. Sein heute noch zitiertes Hauptwerk war eine Studie über "Die Landwirtschaft im hellenistischen Ägypten", die 1925 in den "Münchner Beiträgen zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte" (Heft 7)  erschienen ist.

 

   
 

Dr. Michael Schnebel (1867-1938)

 Wohnung des Ehepaars Schnebel
 Waxensteinstraße 1/I. Stock

 Emmy Schnebel (1881-1938)

 

 

Mit seiner Frau Emmy, geboren am 14. Mai 1881 in Nürnberg, hatte sich der Althistoriker seit dem 12. Dezember 1930 in den Markt Garmisch zurückgezogen. Sie wohnten in der Waxensteinstraße 1. Die Hausbesitzerin Dorothee Kirchgeßner lebte zu dieser Zeit in Berlin-Charlottenburg. In den Jahren 1937 und 1938  standen Michael und Emmy Schnebel in engem brieflichen Kontakt mit dem amerikanischen Studenten Lewis White Beck (1913-1997). Er studierte in Berlin und München Philosophie, machte sich einen herausragenden Namen als Kant-Spezialist und wurde nach dem Krieg Professor für Philosophie an der University of Rochester im US-Bundesstaat New York. Beck stand in Verbindung mit einer Nichte von Emmy Schnebel und sorgte dafür, dass Briefe und Photographien des Ehepaars Schnebel vor seinem Tod 1997 in zuverlässige Hände kamen.

Im Oktober 1996, wenige Monate vor seinem Tod, erinnerte sich L.W. Beck an seinen ersten Aufenthalt bei den Schnebels in Garmisch-Partenkirchen und an den selbstironischen  Humor seines Gastgebers: "The first night I spent in his home he told me, as I was about to go to bed, that many people had difficulty sleeping at the high altitude of Garmisch-Partenkirchen, and if I did I would find a soporific in my bed table drawer. I said boastingly that nothing could keep me from sleep ---- but something did and I reluctantly opened the drawer and found --- Die Landwirtschaft! He was a witty, handsome man."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Links:
Brief von Emmy Schnebel an den US-StudentenLewis White Beck

Oben:

Karte von Emmy Schnebel an Lewis White Beck

Rechts:

Titel einer Geschichte der Philosophie des 18. Jahr-hunderts von L.W.Beck

 

Im Dezember 1937 erhielt L.W. Beck von Emmy Schnebel einen ausführlichen Brief, in dem die deutsche Professorengattin dem amerikanischen Philosophiestudenten nützliche Ratschläge gab, wie Johann Wolfgang Goethes "Faust" zu lesen sei. Sie schrieb ihm: "Zerstören Sie sich den Eindruck des Werkes nicht, lassen Sie besonders Faust I. Teil vollkommen unbefangen auf sich wirken. Es sind da versch. Hexenbeschwörungsszenen darin, die man - u. Sie besonders - unmöglich gleich verstehen kann, - lesen Sie ruhig das erste Mal darüber hinweg u. sehen Sie diese Stellen lieber ein anderes Mal genauer an. Also kein Kommentar vorher! Und nun: Seien Sie ein "gehorsamer Knabe"!!" Erfahrung mit der Rezeption von Goethes Werk bei jungen Lesern hatte sie schon einmal gemacht, mit "unserer kleinen Gertrud", vermutlich einer Nichte, der sie "bergsteigend 1936 den Faust I. Teil zum ersten Mal in ihrem Leben, - ganz hinten am Eibsee, angesichts der Gewalt der Berge" nahegebracht hatte. Eine kluge, selbstbewusste, lebenserfahrene Frau war Emmy Schnebel, dem klassischen Kanon der deutschen Literatur tief verbunden.

 

Die Bibliothek der Schnebels

 

 Emmy Schnebels Arbeitszimmer

 

Aber weder Emmys Liebe zur deutschen Literatur noch Michaels enge Verbundenheit mit der historischen Fakultät an der Universität München konnten die Schnebels vor dem Garmisch-Partenkirchner Pöbel schützen, der in den Morgenstunden des 10. November 1938 durch den Doppelort zog, die jüdischen Bewohner aus ihren Häusern und Wohnungen jagte und sie zum "Haus der Nationalsozialisten" am Adolf-Wagner-Platz (nach 1945 wieder Marienplatz) trieb. Es wird dem Ehepaar Schnebel so ergangen sein wie den Fechheimers und den von-Gahlens, den Ladenburgs und den Hirschs und allen anderen: Sie wurden von einer teils einheimischen, teils auswärtigen Menge beschimpft und bespuckt, dann mussten sie unter dem Diktat des NS-Kreisleiters Johann Hausböck ein Papier unterschreiben, dass sie "Garmisch-Partenkirchen mit dem nächsten erreichbaren Zug verlassen und nie wieder zurückkehren." Außerdem verpflichteten sie sich, die in ihrem Besitz befindlichen "Grundstücke, Gebäude und Waren sofort von (ihrem) neuen Aufenthaltsplatz aus an einen Arier zu verkaufen." Wer dazu nicht bereit war, dem drohte der NS-Kreisleiter mit Dachau - alle haben unterschrieben, auch die Schnebels.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Oben links: Meldekartei des Marktes Garmisch-Partenkirchen mit den Daten des Ehepaars Schnebel. Rechts oben der handschriftliche Vermerk "Seit der Judenaktion (10.11.38) unbekannt wohin verzogen"

Oben rechts: Das "Haus der Nationalsozialisten" am "Adolf-Wagner-Platz" (Marienplatz) - Hier wurden die jüdischen Bürger des Ortes von NS-Kreisleiter Hans Hausböck vertrieben.

Unten links: Schlagzeile des "Garmisch-Partenkirchner Tagblatts" am 19. Februar 1938 nach einer Großkundgebung der NSDAP uner dem Motto "Fremdensaison ohne Juden!"
Unten rechts: Bericht und Bild aus der Lokalzeitung nach dem Pogrom am 10.11.1938

 

 

 

Michael und Emmy Schnebel eilten vom Marienplatz zurück in die Waxensteinstraße 1, begleitet und überwacht von einem SA-Mann, packten das Nötigste in ihre Koffer und verließen Garmisch-Partenkirchen mit dem Zug Richtung Innsbruck. Im Spruchkammerverfahren gegen den früheren NS-Kreisleiter Hausböck sagte ein ehemaliger Garmisch-Partenkirchner SA-Mann am 5. Mai 1949 an Eidesstatt aus: „Als zweiten Auftrag hatte ich das jüd. Ehepaar Dr. Schnebel zur Bahn zu begleiten, um sie einerseits gegen Anpöbelungen des Publikums zu schützen, andererseits aber mich zu überzeugen, daß sie auch tatsächlich abreisten." Erst zwei Tage später, am 12. November 1938, wurde die Wohnung in der Waxensteinstraße 1/I. Stock durch Polizeiobermeister Volnhals und Hauptwachtmeister Schulz versiegelt. Ein Mitarbeiter des Einwohnermeldeamtes Garmisch-Partenkirchen notierte später auf der Meldekarte der Schnebels: "Seit der Judenaktion unbekannt wohin verzogen." 

Das war eine Lüge, denn über das Schicksal des Ehepaars Schnebel wusste man schon am 15. November 1938 in Garmisch-Partenkirchen recht genau Bescheid. Die Gestapo-Staatspolizeileitstelle Innsbruck hatte das Bezirksamt Garmisch an diesem Tag darüber informiert, dass  "das oben genannte Ehepaar am 14.11.1938 gegen 20 Uhr mit Veronaltabletten vergiftet im Hotelzimmer "Vorarlberger Hof" in Feldkirch tot aufgefunden" worden war. Die Schweiz war ihr Ziel. Vermutlich wurden Emmy und Michael Schnebel am Grenzübertritt gehindert - entweder von den deutschen oder von den schweizerischen Grenzbehörden.

Danach haben sie beschlossen, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. "Es ist das Beste, daß wir aus der Welt gehen," so steht es im Abschiedsbrief, den Michael Schnebel verfasste und dessen Inhalt die österreichische Gestapo den Garmisch-Partenkirchner Behörden am 15. November mitteilte. Und weiter: "Wir haben uns getötet, wir halten es für besser, im Vaterland zu sterben, als in der Fremde zu verelenden. Wie Cicero bitten wir, in unserem Vaterlande sterben zu dürfen." Es war ein bitteres "Schlusswort" des Althistorikers Dr. Michael Schnebel und seiner Frau Emmy.

Es ist bisher nicht bekannt, wo sie ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.

Bekannt ist, dass und wie ihr Garmisch-Partenkirchner Hab und Gut oder Teile davon unter die Leute gebracht wurde. Die umfangreiche und wertvolle Bibliothek des Ehepaars wurde öffentlicht versteigert. Ob dies auch für Bilder, Möbel und Hausrat zutraf, ist ungewiss.

Besonderes Interesse erweckte die wissenschaftliche Arbeit von Dr. Michael Schnebel. Acht Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem wissenschaftlichen Betrieb der Universität München, zwei Wochen nach der Vertreibung aus Garmisch-Partenkirchen und wenige Tage nach dem aus Verzweiflung selbst gewählten Tod wandte sich ein Student des Seminars für Alte Geschichte an die Garmisch-Partenkirchner Polizei. Er schrieb am 24. November 1938: „Wie ich darauf hingewiesen wurde, hat in früheren Jahren am papyrologischen Seminar der Universität München der in der letzten Zeit in Garmisch, Waxensteinstr. 1, wohnende Jude Dr. Schnebel gearbeitet und dabei wissenschaftliches Material gesammelt, das von Wert sein könnte. Da nun Grund besteht zur Annahme, daß der Jude nicht mehr in Deutschland weilt und seine Wohnung der Beschlagnahme verfällt, richte ich für das papyrologische Seminar an Sie das Ersuchen, obenerwähntes Material, das für Laien völlig wertlos ist, dem papyrolog. Seminar der Universität München zu übermitteln, wenn dies möglich ist. Es liegt wahrscheinlich vor in Gestalt von Zetteln und Notizen, die in Karthothekkästen und Zigarrenkisten usw. aufbewahrt werden. Da die Reihe der wissenschaftlichen Beiträge, an denen Schnebel in den 20er Jahren mitgearbeitet hat (Münchener Beiträge zur Papyrusforschung), fortgesetzt werden sollen, würden wir großen Wert darauf legen in den Besitz dieser sicher vorhandenen Aufzeichnungen zu kommen. Können Sie uns mit Rat und Tat beistehen, dies zu ermöglichen, wären wir Ihnen sehr dankbar für Ihre Bemühungen. Heil Hitler!"

 

 

Brief des Münchner Studenten Franz Strauß (in Abschrift) an die Ortspolizeibehörde Garmisch-Partenkirchen
 vom 24. November 1938 mit den amtlichen Bearbeitungsvermerken

Die örtliche Polizeidienststelle des Marktes Garmisch-Partenkirchen, an die dieses Ansinnen herangetragen worden war, reichte das Schreiben am 13. Dezember 1938 sowohl an das Bezirksamt Garmisch als auch an die NSDAP-Kreisleitung Garmisch-Partenkirchen weiter mit dem Hinweis auf die "Verordnung über den Einsatz des Jüdischen Vermögens RGBl 1938 S. 1909". Was von dieser Seite veranlasst wurde und ob der Student bzw. das Seminar in den Besitz der begehrten Schnebelschen Aufzeichnungen und Karteikarten gekommen sind, konnte bisher nicht ermittelt werden.

Der Student, der hier für sein Seminar recht dreist das wertvolle wissenschaftliche Material des Münchner Papyrologen Schnebel "arisieren" wollte, hieß Franz Strauß, war 23 Jahre alt, wohnte in München in der Schellingstraße 44 und betätigte sich im Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps (NSKK) als "Weltanschaulicher Referent" des Sturmes 23/M86. Woher der Dreiundzwanzigjährige so kurzfristig in Erfahrung bringen konnte, dass "der Jude" Michael Schnebel sich nicht mehr in Deutschland aufhielt und dass Schnebels Wohnung in Garmisch-Partenkirchen "der Beschlagnahme" unterzogen worden war, lässt sich nicht feststellen. Er scheint aber gute Kontakte zu denen unterhalten zu haben, die dies wussten.

Unstrittig ist dagegen heute, dass aus dem Studenten Franz Strauß der nachmalige bayerische Politiker Franz Josef Strauß (1915-1988) geworden ist, langjähriger Vorsitzender der CSU und bayerischer Ministerpräsident von 1978 bis 1988. Dr. Renate Höpfinger, Leiterin des Archivs der Hanns-Seidel-Stiftung, hat sich am 4.11.2008 in einem Schreiben an Prof. Dr. Ferdinand Kramer, den Inhaber des Lehrstuhls für Bayerische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, so dazu geäußert: "Leider findet sich auch im Studienbuch von Strauß kein Hinweis auf Beziehungen zu dem papyrologischen Seminar der LMU. Bei dem Briefschreiber Franz Strauß dürfte es sich meines Erachtens aber zweifelsfrei um Franz Josef Strauß handeln."

 

Folgenden Hinweis verdanke ich Wolfgang Wegner M.A. (Universität Würzburg) am 13. Juli 2015:
Durch den Münchner Althistoriker Prof. Dr. Walter Otto der Ludwigs-Maximilians-Universität, Doktorvater von Franz Strauß („Justins Epitome der Historiae Philippicae des Trogus Pompeius“), erfuhr Strauß vom Schicksal der Schnebels (nach Bengtson). Otto habe „Strauß beauftragt, die Ordnung des wissenschaftlichen Nachlasses von Michael Schnebel in Garmisch in die Hand zu nehmen. Man mag demnach davon ausgehen dürfen, daß es Strauß bzw. Otto, welche dem Nationalsozialismus allem Anschein nach distanziert bis ablehnend gegenüber standen, nicht darum ging, das geistige Erbe Schnebels zu „arisieren“, sondern vielmehr darum, den wertvollsten Teil seines wissenschaftlichen Nachlasses für die Forschung zu retten."

 

   

 

 

 

 

Literatur:

Alfons Dür, „Es ist das Beste, daß wir aus der Welt gehen“ – Der jüdische Althistoriker Dr. Michael Schnebel und seine Frau Emma Schnebel wählen am 14. November 1938 in Feldkirch den Freitod - Zeitschrift für Geschichte Vorarlbergs MONTFORT 74. Jahrgang 2022 B

Alfons Dür - https://themavorarlberg.at/gesellschaft/wie-cicero-bitten-wir-unserem-vaterland-sterben-zu-duerfen

 

 

Quellen:

Archiv des Marktes Garmisch-Partenkirchen

Staatsarchiv München - LRA Garmisch-Partenkirchen

Bundesarchiv: Gedenkbuch - Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945

Amtsgericht München - Sonderregister S

Lokalgeschichtliches Archiv Alois Schwarzmüller

Barbara Baum Levenbook - Briefe und Photographien von Emmy und Dr. Michael Schnebel

 

© Alois Schwarzmüller 2009